Es war irgendwann im September, ein herrlicher Spätsommertag, als sich ein guter Freund aus vergangenen Tagen meldete, er sei aus beruflichen Gründen in der Stadt, und ob wir uns auf einen Kaffee treffen würden. Ich sagte, ich würde mich sehr freuen, ihn zu sehen, aber ich dürfe derzeit keine Restaurants besuchen. Er sei jedoch sehr herzlich zu mir eingeladen.

Ich kochte Kaffee, und wir genossen draussen die Wärme der Sonne. Es dauerte nicht lange, bis sich unser Gespräch bei unseren Weltbildern wiederfand, und sich da auch um die Frage nach der aktuellen medizinischen Behandlung drehte. Wir erläuterten, mit viel gegenseitigem Respekt, unsere jeweiligen Standpunkte. Als ich mit meinen Worten fertig war, sagte er, fast ein bisschen entschuldigend: «Weisst du, ich gehe halt oft einfach den Weg des geringsten Widerstands.» Ich war ziemlich überrascht, als ich mich darauf antworten hörte: «Ich auch.»

Stimmte das? So hatte ich es selbst noch nie betrachtet.

Ich war 15 Jahre alt, als ich mit der Kantonsschule begann. Warum, wusste ich eigentlich gar nicht. Ich hatte dankbarerweise nie Probleme mit dem Schulstoff und kam stets locker durch alle Stufen. Meine Lehrer dachten wohl, ich sei für den akademischen Weg berufen, und ich dachte mir nicht viel dabei, als ich schliesslich zur Prüfung antrat und diese – mit sehr überschaubarem Aufwand – auch noch bestand.

So sass ich also da, nach den Sommerferien, in jener Schule, die ich nun für vier Jahre besuchen sollte. Doch es stimmte etwas nicht. Ich fühlte mich nicht wohl, ich ging nicht gerne hin. Ich schleppte mich zwei Monate durch, doch dann hatte mein System genug. Als die Schule nach den Herbstferien wieder begann, ging ich nicht mehr. Ich konnte nicht mehr. Mein Körper sagte nein, ganz deutlich. Also meldete ich mich krank und blieb im Bett liegen. Selbstverständlich in Absprache mit meiner Mutter, die sah, dass es mir nicht gut ging.

Drei Wochen vergingen, am Zustand änderte sich nichts. Ich war überfordert, hilflos, mit mir selbst am Ende. Ich erhielt aufmunternde Zuschriften meiner Klassenfreunde, aber ich lag im Bett. Bei der Vorstellung, zurück in diese Schule zu gehen, zog sich in mir alles zusammen. Mein innerer Widerstand war so gross, dass ich nicht in der Lage war, rational dagegen anzugehen.

«Du musst diesen Weg nicht gehen, wenn du das nicht willst», sagte meine Mutter, die mich während der ganzen Zeit mit grösstmöglicher Liebe unterstützte, und ergänzte: «Aber wenn du einen anderen Weg gehen möchtest, dann liegt es an dir, deine Lehrer anzurufen und das zu besprechen.»

In diesem Moment änderte sich in mir alles. Da war ein Ausweg. Die Lebensgeister kehrten zurück. Ich rief zuerst meinen Klassenlehrer in der Kantonsschule an, dann auch meinen vorherigen Klassenlehrer in der Sekundarschule, und keine Woche später war ich zurück bei meinen ehemaligen Schulkollegen. Die perfekte Lehrstelle für mich ergab sich wenig später wie aus dem Nichts.

Ich fühlte mich getragen von etwas Grösserem. Ich war, aus heutiger Perspektive, dem Ruf meiner inneren Stimme gefolgt und hatte dem Leben die Führung übergeben – und das war für mich tatsächlich der Weg des geringsten Widerstands. Es sollten in meinem Leben ganz viele ähnliche Erlebnisse folgen, die das Vertrauen in meine innere Stimme immer weiter stärkten.

Zwei Stunden waren vergangen, als mein Freund sich auf den Weg machen musste. Es war ein wunderbares Gespräch über Gott und die Welt, trotz oder vielleicht gerade wegen vieler unterschiedlicher Ansichten. Wir verabschiedeten uns mit einer herzlichen Umarmung.

Als er gegangen war, blieb mir die wertvolle Erkenntnis, dass unsere Wege des geringsten Widerstands – und damit unsere Wege in der Welt – ganz unterschiedlich aussehen mögen. Jeder Weg führt zu einer einzigartigen Erfahrung, jeder Weg hat seine Berechtigung. Weil erst über das Spektrum aller Möglichkeiten und die Wertschätzung für die Wege anderer Menschen entsteht für mich die Chance, meinen ganz eigenen Weg zu erkennen und zu gehen.

Dieser Text erschien im Juni 2022 als Kolumne in der Zeitschrift «Die Freien».