Hast du dich schon einmal beim Denken beobachtet? Vielleicht kommt dir diese Frage komisch vor; mir wäre das vor ein paar Jahren bestimmt genauso gegangen. Stell dir vor, du sitzt an einer vielbefahrenen Strasse, und deine Gedanken sind die Autos, Lastwagen, Motorräder, die fortlaufend an dir vorbeiziehen und ziemlich viel Lärm machen. Kannst du dich vielleicht auch bei dir daneben setzen und beobachten, welche Gedanken in deinem Geist vorbeiziehen?

In meinem Leben gab es dazu ein Schlüsselerlebnis. Es war eine ziemlich stressige Woche, in die ich mehr Termine geladen hatte, als für die Balance gut war. Verschiedene Ebenen, Beruf und Hobby, und überall gab es scheinbar Probleme zu lösen, die mich sehr beschäftigten. Ich lag abends im Bett und die Gedanken kreisten. Jede mögliche Lösung eines Problems schien zahlreiche neue Fragen aufzuwerfen, die ich dann auch wieder mit dem Denken zu lösen versuchte.

Das Gedankenkarussell drehte immer schneller, wurde zu einem ausgewachsenen Wirbelsturm. An Entspannung war nicht zu denken. So vergingen die Stunden, die Gedanken kreisten, und ich fühlte mich immer schlechter. Weil ich nämlich mit all diesen Gedanken viel zu aufgedreht war, um zu schlafen. Und mit jeder Stunde, in der ich nicht schlafen konnte, konstruierte ich mir neue Probleme. Zum Beispiel jenes, dass ich am nächsten Tag nicht fit sein würde.

So drehte sich das weiter, bestimmt bis drei Uhr morgens. Und dann passierte es. Der Prozessor in meinem Kopf stürzte ab, wegen Überlastung. Es fühlte sich an wie ein elektrischer Kurzschluss. Das Gehirn konnte wohl nicht mehr. Wie ein alter Computer, der zu viele Befehle gleichzeitig ausführen muss. Auf einen Schlag war alles weg. Alle Gedanken, alle Sorgen und Probleme waren abgestellt, von einem Augenblick auf den nächsten.

Ich war vollkommen bewusst. Und vollkommen fasziniert. In dem Moment, als die Gedanken weg waren, war da nur noch leerer Raum. Stille und Weite. Reines, ungestörtes Bewusstsein. Ich war total überrascht, aber ich genoss es sehr. Ich schwebte während ein paar Minuten in diesem unbeschreiblich angenehmen Zustand, völlig ruhig und entspannt. Ich war sehr präsent in meinem Körper, aber gleichzeitig in der Weite einer riesigen Welt, zu der ich plötzlich Zugang hatte.

Langsam startete mein Prozessor neu und begann, erste Gedanken in diesen leeren Raum zu werfen. Aber sie hatten eine ganz andere Wirkung als zuvor. Sie hatten keine Macht mehr über mich – weil es für mich offensichtlich war, dass ich nicht diese Gedanken bin. Ich konnte die Gedanken aus dem leeren Raum heraus beobachten. Ich konnte entscheiden, ob ich die Gedanken glauben wollte, oder ob ich sie einfach vorbeiziehen liess, wie die Autos an einer vielbefahrenen Strasse.

Das Bewusstsein, das ich wirklich bin, war offensichtlich so viel grösser als diese problembehafteten und eingeschränkten Impulse, die mir mein Gehirn ungefragt in den leeren Bewusstseinsraum warf. Und das ging noch weiter: Ich erschuf mir Gefühle, weil ich glaubte, was ich dachte. Wenn mein Denken zum Beispiel sagt, ich hätte etwas falsch gemacht, oder ich könne ein Problem nicht lösen, fühle ich mich nicht gut. Ich könnte mich aber genauso gut für einen anderen Gedanken entscheiden. Ich könnte mir in diesem leeren Raum sogar ganz bewusst einen liebevolleren Gedanken kreieren, und dem dann Glauben schenken. Das würde zu einer deutlich angenehmeren Empfindung, zu einer viel angenehmeren Erfahrung führen.

Im Anschluss schlief ich tief und sehr erholsam. Es dauerte zwar nicht allzu lange, bis sich die Gedankenkarusselle in meinem Leben wieder zu drehen begannen, aber das Erlebnis aus jener Nacht ging nie mehr weg. Es hatte eine Box gesprengt, einen Raum für ganz neue Möglichkeiten eröffnet: Wenn ich selbst wählen kann, was ich in einer bestimmten Situation denken und glauben will, habe ich auch einen direkten Einfluss auf meine ganz persönliche Erfahrung dieser Situation. Es ist immer meine freie Entscheidung.

Hast du dich schon einmal beim Denken beobachtet? Hast du schon einmal die lärmenden Autos, Lastwagen, Motorräder in deinem Geist einfach nur vorbeifahren lassen? Vielleicht liegen dahinter Räume verborgen, die dir völlig neue Erfahrungen ermöglichen.

Dieser Text erschien im August 2022 als Kolumne in der Zeitschrift «Die Freien».