«Vielleicht spürst du ja auch das», sagte meine Mutter und zeigte auf einen Kranz, der zum Gedenken an einen verstorbenen Menschen an einer Laterne befestigt war. Wir standen auf einer Fussgängerbrücke, ganz nahe von zuhause, einem der höchsten solchen Stege, den es in Europa gibt. Die 100 Meter hohe Stahlkonstruktion überbrückt ein tiefes Tobel und war über Jahre schweizweit einer jener Orte, an dem sich die meisten Suizide ereigneten. Die Brücke, zu Randzeiten und in der Nacht oft völlig verlassen und von Wäldern umgeben, das Tobel weitläufig und unbewohnt – verständlicherweise ein geeigneter Ort, um dem Leben ein Ende zu setzen. Zumindest bis die Brücke vor etwas mehr als zehn Jahren saniert und Netze zur Suizid-Prävention installiert wurden.

Trotz dieses Umstands war die Ganggelibrugg immer einer meiner Lieblingsorte. Die Einsamkeit (wenn es nicht gerade ein sonniger Sonntagnachmittag ist), die Aussicht ins Appenzellerland, die Tiefe, in welcher Sitter und Wattbach rauschen und zusammenfliessen – all das bildet einen magischen Ort, um innezuhalten und sich mit der Natur und der Welt zu verbinden. Für mich, der an exponierten Stellen in der Höhe oft kein gutes Gefühl hatte, war die Brücke ausserdem auch lange so etwas wie eine Therapie. Immer wieder verbunden mit der Frage, woher wir wohl eine solche Höhenangst in unser Leben mitbringen.

«Vielleicht spürst du ja auch das», sagte meine Mutter, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass ich in jenem Moment meine alte, auf dieser Brücke längst vergessene Höhenangst wieder einmal spürte. Sie beschlich mich wie ein kalter Windhauch, war plötzlich wieder präsent. Ich atmete, spürte und blieb bei mir. Und die Worte warfen augenblicklich ganz ein anderes Licht darauf. Der Gedanke war mir bis dahin noch nie gekommen: Was wäre, wenn das, was ich an solchen Orten spürte und (mangels anderer Erklärungen) als Höhenangst bezeichnete, gar nie meine eigene Angst war –, sondern all die schwierigen Erinnerungen und Energien, die an diesen Orten im Feld gespeichert sind? All die Verzweiflung der Menschen die sich das Leben nahmen, all die Trauer der Angehörigen, all die Angst, die Wut, der Tod.

Rational gesehen gab es nie einen Grund, auf der Brücke Angst zu haben. Und trotzdem wäre ich (und bin ich) schon als Jugendlicher manchmal am liebsten davongerannt, weil ich mich so unwohl fühlte. Weil ich glaubte, Angst zu haben; weil ich glaubte, irgendetwas Schlimmes könnte passieren. Über die Jahre habe ich gelernt, dass wenn ich diese Gefühle zulasse und im gegenwärtigen Moment bewusst werde – wenn ich atme, spüre, zu mir komme und meinen Raum um mich herum einnehme –, die Angst und die unangenehmen Gefühle verschwinden und einer inneren Ruhe, einem intensiven, bewussten Sein Platz machen. Und das auch in anderen scheinbar schwierigen Situationen in meinem Leben.

«Vielleicht spürst du ja auch das.» Ja! Die Erkenntnis traf mich klar und unvermittelt. Es war gar nie eine Höhenangst unerklärlicher Herkunft, sondern meine Sensoren klinkten sich ein in das, was an solchen Orten oder in solchen Situationen als ganz schwere, unangenehme Erinnerungen und Energien verborgen lag. Unsichtbar für das Auge, unhörbar für das Ohr, aber deutlich spürbar für feinfühlige Menschen. Darum verschwand diese Angst auch stets, wenn ich es schaffte, bewusst meinen Raum zu halten. Weil diese Gefühle waren gar nie in mir – es war umgekehrt: ich war in diesen Gefühlen. Gefühle, die individuell und kollektiv mit all den schwierigen Schicksalen und Erlebnissen in diese Umgebung eingeprägt wurden.

Wir können sie (und uns) befreien, wenn wir an solchen Orten, in solchen Momenten, bewusst innehalten, zur Ruhe kommen und unser inneres Licht scheinen lassen. Wenn wir erkennen, dass wir nicht das sind, was wir spüren, heben wir die Identifikation damit auf. So drehen wir das Spiel um und werden von einem Empfänger dieser schwierigen Situationen zu einem Sender der Liebe, der die Frequenz unserer Umgebung erhöht und auf diese Weise alte Blockaden erlöst und wieder ins Fliessen bringt. Wir brauchen dafür nichts zu tun, ausser einfach bewusst zu sein.

Die Brücke war für mich immer ein ganz besonderer Ort. Jetzt noch umso mehr.