Und dann stand er da, der kleine Junge, spätabends auf dem kleinen Hügel in seiner Nachbarschaft. Neugierig und ganz allein. Der Himmel mit Wolken überzogen, es war nichts zu sehen. Schön war es trotzdem. So vertraut, friedlich und still, nachts an diesem Ort. Der Junge war zuhause, in mehrfacher Hinsicht. Er stand da und genoss den Moment, ohne Erwartung oder Enttäuschung. Es hätte genau so bleiben dürfen.
Doch dann, unvermittelt, riss der Himmel auf, allen gegenteiligen Wetterprognosen zum Trotz. Sterne zwischen den Wolken. Zuerst ein leichtes Schimmern. Und dann tanzten sie plötzlich, die Nordlichter. Oben kitschiges rot, der Horizont zwischen den Wolken grün. Passierte das grad wirklich? Der Augenblick war magisch, und noch mehr. Der kleine Junge war zuhause und gleichzeitig in einer ganz anderen Welt.
War das real? Der kleine Junge, der mit der Welt verstrickt war, der hier immer noch Schutz und Sicherheit suchte, zweifelte. Der Meister nahm ihn liebevoll in den Arm, legte seinen Mantel um ihn. Und der kleine Junge, durch all seine verbliebenen Zweifel hindurch, sah es. Spürte es. Wusste es. Ja eigentlich schon lange. Manchmal fühlte er sich völlig frei, aber seine Zweifel banden ihn immer wieder an die Welt, in der es aussah, als bliebe alles felsenfest, so wie es scheinbar immer war: Ein täglicher Kampf ums Überleben. Er sah zwar immer wieder mal durch den Vorhang hindurch in andere Welten. Aber er getraute sich nicht so richtig, die alte und halt so vertraute Welt loszulassen. Da war immer noch die Überzeugung, der Weg aus der alten Welt führe durch eben diese Welt hindurch. Quasi als Suche nach dem heiligen Gral, der manchmal so nahe scheint wie eine vor der Nase aufgehängte Karotte, aber gleichzeitig eben doch nie erreichbar ist. Ein unendliches Spiel, unmöglich zu gewinnen.
Der Meister war ihm immer ganz nahe, das ganze Leben schon, auch wenn er das nicht wusste. Er hielt die Hand des Jungen, in grösstmöglicher Ruhe und Liebe. Er beobachtete, er freute und amüsierte sich über die Geschichte, die der abenteuerlustige Junge in der Welt schrieb, in all ihren Facetten. Manchmal gab sich der Meister zu erkennen, nicht offensichtlich zwar, aber in Träumen, als Intuition oder als innere Stimme. Und er machte sich nie auch nur den Hauch einer Sorge, egal was der Junge ausprobierte oder anstellte. Weil er wusste von Anfang an: Die Zeit war gekommen. Ein Verlaufen und Verstricken in dieser Welt war nicht mehr möglich. Der Meister war einzig gespannt, auf welchem Weg der Junge das Ziel erreichen würde; welche Umstände und Erfahrungen er sich für diese wunderbare Reise erschafft.
Und so stand er da, der kleine Junge, spätabends in der Dunkelheit auf dem kleinen Hügel. Hingeführt von der inneren Stimme. Die Nordlichter tanzten vor seinen Augen. Und während er sich wie ein Kind freute und über das Spektakel staunte, spürte er plötzlich die Wärme des Mantels. Der Meister stand neben ihm, voller Freude und Anmut; er hatte ihn bis zu diesem Moment gar nicht wahrgenommen. Beide lächelten. Und dann schauten sie zum Himmel und staunten gemeinsam. So lange bis die Wolken den Himmel wieder überdeckten und der angekündigte Regen doch noch kam.
Als sich der kleine Junge auf den Heimweg machte, mit dem Meister an seiner Seite, wusste er: Auch wenn da manchmal Wolken und Zweifel sind, ist die Türe in andere Welten längst offen. Das ganze Drama, der ganze Lärm und die scheinbare Ernsthaftigkeit der alten Welt lösen sich in einem winzigen Quantenmoment einfach auf, wenn er sich entscheidet, loszulassen und mit den Nordlichtern zu tanzen. Wenn er sich dem Meister, der genauso ein Teil von ihm selbst ist, anvertraut – wenn er es zulässt, dass er selbst zum Meister werden kann –, ist er nicht mehr gebunden an die alte Welt. Dann ist er völlig frei. Er hatte es soeben mit seinen eigenen Augen gesehen.
Text vom 13. Oktober 2024. Das Bild entstand drei Tage davor.